What's happening

Seit dem Umbau des Wohnzimmers sind unsere Schallplatten wieder richtig griffbereit und lagern nicht mehr irgendwo hinter Kartons mit der Aufschrift "Achtung, hochexplosiv" in einem Keller 20 Kilometer weit entfernt.

Es ist ein ganzes Stück - mindestens 2 Meter, 30 cm LPs und Maxis, Singles rechne ich mal nicht mit ein.

Meine Platten - wenn ich nicht etwas spezielles haben wollte - kaufte ich oft auf Krabbeltischen ein mit einer Art natürlichem Gespür für ganz besondere Gelegenheiten, so auch dieses Werk, über das ich kurz berichten möchte.

Ein kleines Preisetikett deutet es an: "Saturn, 1,--". Die habe ich 1986 in Köln bei Saturn gekauft, es gab damals nur einmal Saturn, der war bundesweit wegen seiner Plattenabteilung - etwa so groß wie zwei Fußballfelder - bekannt und überdies hatten die sogar eine eigene Mailbox.

Eine Maxi-Single ist das, und ich kannte damals weder den Titel noch den Interpreten. Ich sah nur die das Label "CNR" - das war aus Holland, ein Disco-Label. Holländer sind ja ein komisches Volk, hassen alle Deutschen wegen der Besatzungszeit im II. Weltkrieg, verkaufen ihnen aber das so dringend benötigte Hasch sehr gerne und hören komische Musik. Musikalisch gesehen bin ich wirklich ein Holländer, denn ich mag auch komische Musik. Es gibt viele Interpreten, die überhaupt nur in Holland einen Erfolg landen können, dort aber richtig. Ein solches Beispiel waren die ersten Veröffentlichungen der "Pet Shop Boys", die kennt heute jeder, sie sind wirklich richtig groß geworden, aber am Anfang, als Neil Tennant noch für den "Rolling Stone" wohlgefällige Artikel als freier Journalist schrieb und Chris Lowe ein keyboardspielender Nobody war, konnten sie nur in Holland in den Charts klettern.

Also mußte ich diese Platte unbedingt haben. DM 1,-- auf dem Krabbeltisch und von einem holländischen Label - das mochte wirklich niemand kaufen, aber ich brauchte es unbedingt. Der Interpret nannte sich "Peter Thames" und er intoniert ein Stück mit dem Titel "What's happening".

Das erste Mal hörte ich die Platte auf dem leiernden Plattenspieler meiner Brieffreundin in Köln, die ich gerade besucht hatte - und wir lagen gröhlend auf dem Boden. Was sich dort abspielte, klang in etwa wie ein verstimmter Réne Kollo, der ein Glas Nägel gefrühstückt hatte und versuchte, zu einem Song aus "Saturday Night", gespielt auf einem Zweihundermark-Casio-Keyboard, zu jodeln.

Ab und an habe ich mir das gute Stück wieder zu Gemüte geführt. Und jetzt wieder, aber nicht zufällig, denn in unserer neuen Schallplattenpracht habe ich es herausgesucht und als Testlauf erstmal dem Kleinen vorgespielt. Der zeigte sich recht begeistert, und so wagte ich es, Amira mit diesem grandiosen Kunstwerk zu konfrontieren.

Ihre Reaktion war niederschmetternd. Nicht, daß sie es nicht gewohnt wäre, grauenvolle Musik von mir vorgesetzt zu bekommen, aber statt lautstark zu protestieren, meinte sie nur: "Der arme Kerl tut mir so leid!"

Ich war geschockt! Der garantierte Lacher krepierte sofort und ich stellte augenblicklich meine extatischen Bewegungen, die ich als eine Art Ausdruckstanz darbot, ein. Das war schwierig, weil ich gerade einen von einer Maschinengewehrsalve getroffenen Soldaten imitierte; es gelang mir nur mit größter Mühe mitten im Fallen das Fallen selbst abzustellen, und zwar erst, als ich am Boden angelangt war. Dafür aber stocksteif und mit dem Kopf nach unten, weil ich mich so schämte.

"Peter Thames" singt nämlich vom Krieg. Er singt davon, daß er gar nicht glauben kann, daß des Krieges wegen andauernd junge Menschen umkommen, daß er aber alles nur am Fernseher verfolgt und ihn die ganze Sache dennoch ziemlich fertig macht. Er singt davon, daß er irgendwie nix mehr mitbekommt und nix mehr versteht.

"Was", so führte Amira aus, als ich mit platter Nase auf dem Boden lag und Sir Toby eine Art Kriegstanz um meinen Kopf herum aufführte, "ist denn, wenn der arme Kerl sein letztes Geld aufgebracht hatte und das alles richtig ernst meint?" Ein Universum voll grauenvoller Vorstellungen eröffnete sich mir. Die Platte hat ein © 1983. Was, wenn dieser "Peter Thames" ein Engländer ist und - sagen wir - sein Bruder 1982 im Falkland-Krieg ums Leben kam?

Er arbeitet hart in seinem blöden Job, schleppt irgendwelche Schweinehälften im Schlachthof herum und schwört sich nur: "Dein Tod war nicht umsonst, Roy!" Nach Feierabend sitzt er müde und abgespannt in seiner Einzimmerwohnung und brütet über einem Song, um die Menschen aufzurütteln. Sein geliebter Bruder ist tot, er hatte eine Frau und zwei kleine Töchter. Eben war Papa noch da, dann mußte er "arbeiten" gehen, wie Mama sagte, und eine Woche später stehen zwei Herren in Uniform vor der Tür und reden leise und vorsichtig, nachdem sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten und Mama sich auf deren Geheiß einen Likör einkippt. Sein Bruder, der ihm Radfahren beigebracht hatte und ihm erzählen konnte, welche Mädchen gut und welche schlecht für ihn sind. Der ihn vor den tadelnden Eltern immer in Schutz genommen hatte, wenn er mal wieder betrunken früh am Morgen von irgendeiner Party kam - SEIN BRUDER IST TOT!

Er kratzt seine ganzen Ersparnisse zusammen und geht in ein Studio. Ein Kumpel ist auch noch mit dabei, der macht den Produzenten und programmiert die Synthies. Der Tontechniker ist müde und hat keine Lust; seine Freundin hatte ihm letzte Nacht eröffnet, daß er sie langweilt und daß sie diesen Typen da kennengelert hat... Die Aufnahme ist nach drei Stunden fertig, Abmischen 90 Minuten, macht summa sumarum £ 2000 inklusive Masterband. Ein Bekannter hat angeblich Kontakt zur Szene und will die Aufnahme groß herausbringen, er wurde nie wieder gesehen. Schließlich gibt es doch noch einen kleinen Vertrag mit diesem holländischen Label, aber nur für diese eine Aufnahme und ohne irgendeine Umsatzbeteiligung. "Egal", denkt Peter, "das bin ich meinem Bruder schuldig!"

Es werden nur 1000 Einheiten abgesetzt, und die liegen wie Blei in den Regalen. Er träumt von Ruhm, er sieht sich schon in den Talkshows sitzen und dem gleichzeitig geladenen Rüstungsminister wortgewaltig Paroli bieten, die Musikpresse steht Schlange und hofft auf Interview-Termine, aber er ist eben nur ein armes Schwein, das keinen Pfennig mehr auf der Bank hat. Niemand fragt ihn, ob er einen bestimmten Grund hatte, gerade diesen Text zu schreiben, er kann niemandem von seinem Bruder erzählen, was für ein toller Mensch er war. Er sitzt in seiner Einzimmerwohung und hört ständig Radio, er hofft, bei den Neuvorstellungen dabei zu sein. Nichts. Er ruft an, wünscht sich seinen eigenen Titel. Nichts kommt. Er ist am Boden zerstört, und die Welt dreht sich weiter.

Heute habe ich mir mit Sir Tobi die Platte wieder angehört. Wir tanzten im Wohnzimmer dazu Ringelreihen und jagten uns um den Esstisch herum. Bei den Maschinengewehrsalven spielten wir beide "Toter Mann" und ließen uns auf auf's Sofa fallen.

Manche Leute lernen eben nie etwas.


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 16.10.2000 von Brutus
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