Der wunderbare Karpfen

Der Kameramann hatte das letzte Material für seinen Film übers Hobbyangel abgedreht. Alle waren froh, so weit fertig zu sein. Auf der Heimfahrt freute sich der Dokumentarfilmer, daß das Licht an diesem letzten Drehtag so gut gewesen war, und dachte bei sich, jetzt habe ich sogar nebenbei das Angeln gelernt; neben ihm im Wagen stand ein Eimer, in dem der große Karpfen schwamm, den er heute gefangen hatte. Zu Hause angekommen trug der Kameramann zuerst den Karpfen in seine Wohnung, gab seiner staunenden Freundin den Eimer in die Hand und ging dann noch ein paar Mal zu seinem Wagen um seine Kameraausrüstung zu holen und brachte schließlich auch das Filmmaterial in seine Wohnung. "Wo bist Du? Was sagst Du zu dem Karpfen?" "Hier im Bad." "Du hast ihn in die Wanne getan." "Ja. Guck mal!" Der Karpfen schwamm durch das glasklare Wasser der Wanne. Und der Kameramann und seine Freundin guckten ihm zu. "Wie der schwimmen kann", sagte nach einer Weile die Frau. "Ja, er ist ganz wunderbar", antwortete der Kameramann und war erholt und froh vom Anblick des Karpfens.

"Wir wollten uns noch mit Peter dem Fotografen treffen heute abend", erinnerte ihn die Frau. Am Abend saßen sie mit dem befreundeten Fotografen in einer Kneipe und der Kameramann erzählte begeistert vom Angeln und von den Anglern, vom Angelfilm- machen und von seinem "wunderbaren Karpfen". Schließlich bemerkte er beim Abschied, daß sein Freund doch sehr unglücklich dreinguckte. "Es läuft wohl nicht alles so gut zur Zeit bei Dir?" "Ja", antwortete der, "nichts läuft richtig." Da lud der Kameramann den Fotografen noch kurz zu sich ein, er zeigte ihm den Karpfen und sagte "Ist das nicht ein ganz wunderbarer Karpfen!?" "Ja", sagte sein Freund, der Fotograf; "Du hast Glück!" Da kam dem Kameramann der Gedanke, er nahm, als sein Freund ging, den Eimer und schöpfte den Karpfen mit einigem Wasser darein, ging zur Tür und gab dem Freund den Eimer in die Hand und sprach: "Komm, ich möchte daß Du Dich freust wie ich, also nimm den Karpfen." So geschah es, daß der Fotograf einen Karpfen durch die Straßen trug und ein Nachbar fragte: "Ach, sie angeln?" "Nein, ich habe nur einen Karpfen.", antwortete der Fotograf.

Zuhause stellte der Fotograf den Eimer ab und dachte sich: "Ich mache mir ein paar Fotos von dem Fisch; vielleicht habe ich irgendwann einen Auftrag, Fotos zu machen, die zeigen wie ein Karpfen oder ein Fisch ist." Also setzte er den Fisch auch in seine Wanne. Fotografierte das Tier. Nahm es heraus. Fotografierte es. Am Ende schlug der den Kopf den Tieres gegen den Küchentisch, packte sein schärfstes Küchenmesser, schnitt den Karpfen sorgsam der Länge nach von der Bauchseite her auf und nahm den Fisch aus. Jedes Teil der Innereien trennte er penibel heraus, legte es gesondert auf weißes Küchenpapier und daneben säuberlich parallel beigeordnet ein Stück Zentimeterband. So fotografierte er Stück für Stück alles, was in einem Karpfen ist und was ein Kameraauge nur sehen kann. Schließlich warf er die Innereien weg, klappte den Fischleib ganz auf, spülte ihn mit Wasser ab und legte ihn so aufgeklappt auf den Küchentisch, damit er ihn nächsten Tages zu Mittag zubereiten könne.

Am nächsten Morgen roch er kurz an den Fischhälften, dachte "Ja, ich sollte ihn lieber heute vormittag braten." und mittags wurde er satt von dem Fisch.

Diesen Abend traf er wieder seine Freunde. "Wie geht es Dir", fragte ihn der Kameramann aufmerksam, "Wie findest Du den Karpfen?!" "Wir haben gestaunt", sprach die Freundin, "wie flink und geschick so ein Karpfen schwimmt." "Ja", fügte der Kameramann hinzu, "wir finden den Karpfen ganz wunderbar!" "Danke!", erwiderte der Fotograf ernst, "Ich war vor allem erstaunt wie intensiv, nicht unangenehm, aber intensiv so ein Karpfen riecht, wenn man ihn ausgenommen hat. Aber man kann schon wunderbar satt werden von so einem dicken Fisch. Danke für den Fisch."


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Erste Veröffentlichung: 25.01.2003 von Elek
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