Summer of love

Berlin in den späten sechziger Jahren - eine Stadt der Musik und der Liebe! Aus allen Fenstern wehen die neuesten Hits - "Itchycoo Park" von den "Small Faces": "It's all too beautiful"...

Lächelnde, junge, langhaarige Menschen haben sich im Schloßpark Charlottenburg niedergelassen, um der allgegenwärtigen Musik zu lauschen und ihren friedvollen Gedanken nachzuhängen. Der warme Frühlingswind spielt in den Zweigen... "It's all too beautiful"...

Und ich sage euch: Alles Blödsinn!

In den späten sechziger Jahren gehe ich noch in die Grundschule. Mein Hauptinteresse gilt meiner Eisenbahn und den Modellautos von "Corgi Toys", mit denen wilde Wettfahrten auf dem Schulhof veranstaltet werden.

Von Popmusik habe ich aber auch nicht die leiseste Ahnung. Mein Schulfreund Jürgen Holtz allerdings ist Fan einer eigenartigen Band, mit deren Musik ich nichts anfangen kann: den "Bee Gees".

Die einige Musik, die ich kenne, stammt vom LP- Wechsler meiner Eltern. Auf den lassen sich zehn Langspielplatten stapeln, und alle sind von James Last.

Mein Freund Arno besitzt die Beatles- Platte "Please please me", die wir gelegentlich ohne größere Anteilnahme hören. Sie ist noch nicht in "Sterero", wie Arnos Mutter sagt, und klingt bereits damals veraltet. Viel besser gefällt uns eine Schnulze, in der vom "Pferdehalfter an der Wand" die Rede ist. Oder Bruce Lows Lied von Noah und seiner Arche. Oder das düstere Seemannslied von der "Mary Anne, sie war sein Schiff / doch eines Tages lief sie auf ein Riff..."

Immer wieder wird in der Schule von einem sagenumwobenen Sender namens "Radio Luxemburg" erzählt. "Luxemburg" steht sogar auf der Radioskala, aber es gelingt beim besten Willen nicht, die tolle Musik zu hören, die dieses "Luxemburg" ausstrahlen soll. Stattdessen finden Arno und ich den Polizeifunk, der eigentlich noch viel besser ist, als "Luxemburg" je sein könnte.

Das Wort "Student" hat damals einen sehr schlechten Klang. Die Studenten sind ungepflegt und gegen alles. Was sie eigentlich wollen, wissen sie selber nicht, und die Texte der englischen Lieder, die sie hören, verstehen sie überhaupt nicht. Da bin ich mir als Zehnjähriger mit meinen Eltern völlig einig!

Es wundert mich jedenfalls gar nicht, daß der Schlimmste von ihnen mit Nachnamen "Teufel" heißt. Er trägt genau so eine Brille wie einer von den Beatles, der ebenfalls verrückt geworden ist. Ich parodiere ihn, indem ich mir einen Bart aus Papier anklebe und mit einem selbstgemalten Protest- Plakat durch die Straßen ziehe. Leider wird meine machtvolle Kundgebung von den friedlichen Siemensstädtern, die einen leibhaftigen "Studenten" im Leben wahrscheinlich ebensowenig gesehen haben wie ich, nicht verstanden.

Das war mein legendärer "Summer of Love"!


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 2.1.2000 von Holger
[Kommentar zu diesem Text in Forum "Literarisches Café" schreiben]
[Forum "Literarisches Café" lesen]
 
[Forum junger Autoren] [Home]