Es lebe der Sport - aber ohne mich!

Zum Sport hatte ich immer schon eine zwiespältige Beziehung: Auf der einen Seite konnte ich ihn nicht leiden, andererseits brachte ich ihm nur Todesverachtung entgegen. In der Schule bin ich diesen unerfreulichen Veranstaltungen namens "Sportstunde" durch diverse Tricks so oft entronnen, wie es nur ging: Vierte Klasse, Schwimmen: Ich hatte allerlei Übelkeit und Ohrensausen. Fünfte Klasse: Ich schleimte mich bei unserem Sport-, Deutsch-, und Klassenlehrer in der Deutschstunde ein, so daß ich mich mit einigen Ausreden vor dem Gräßlichsten bewahren konnte: Beim Fußballspielen durfte ich den Schiedsrichter machen, was umso besser war, als ich von den Regeln natürlich keine Ahnung hatte. Der Lehrer war froh, er konnte in der Zeit Klassenarbeiten korrigieren oder mit der Mathe-Lehrerin Kaffee trinken gehen und ich ließ mich mit Schokolade und kleinen Gefälligkeiten gerne darauf ein, Regeln härter oder schwächer auszulegen oder gar neue zu erfinden. Aus diesem Grund waren Fußballspiele - bald wurde fast ausschließlich Fußball gespielt, weil es wirklich sehr, sehr viele Klassenarbeiten zu korrigieren und massig Kaffee zu trinken gab - irgendwann das Highlight einer jeden Woche.

Auf dem Gymnasium war ich zu den "Bundesjugendspielen" immer regelmäßig schrecklich krank. Einmal, als ich in der neunten Klasse meine Mutter nicht von meinem jämmerlichen Zustand überzeugen konnte, mußte ich heftig im Unterricht hyperventilieren, kippte um und wurde mit der Feuerwehr ins Krankenhaus gefahren. Dort angekommen ging es mir erstaunlicherweise schnell besser und eine Stunde später war ich wieder zuhause, während die anderen kiloschwere Metallkugeln in irgendwelche Richtungen schleuderten und andere gegen die Uhr wie die Blöden im Kreis rannten. Paradisische Zeiten brachen gar in den letzten zwei Semestern an: Mit Erreichen der Volljährigkeit konnte ich mir selbst Entschuldigungen für den Unterricht schreiben. Da ich wirklich viel Zeit für meinen C64 und das darauf entstehende Mailboxprogramm brauchte, konnte ich mir nicht laufend neue Fehlgründe ausdenken und entwarf ein Formblatt, wo ich nur ankreuzen mußte oder, wenn ich einen guten Tag hatte, etwas unter "sonstiges: " eintrug. Dieses Formblatt machte bei uns die Runde und mein MPS 803 (ein Sieben-Nadel-Drucker) deswegen Überstunden. Bald wurde nur noch korrekt nach Formblatt "AM 1/86" gefehlt, und da die Form der Verwaltungsvorschrift genügte, war es nicht anfechtbar. Mein Plan war klar: Da Sport Pflichtveranstaltung war, bei der man sich keinen Sechser leisten konnte, mußte ich genau die Hälfte der Zeit dabeisein. Dort mußte ich "mitmachen", also irgendwie ein bißchen herumrennen und bekam dann garantiert eine Vier. Mein Kleiner Plan hatte den Nachteil, daß der Sportlehrer nicht krank werden durfte, und ich vertraute voll darauf - er enttäuschte mich nicht.

Natürlich gab es auch bei meinen Schulsportpflichtveranstaltungen ihre Höhepunkte: Neben dem bestechlichen Fußball-Schiedsrichter machte mir Volleyball im 2.Semester Oberstufe richtig Spaß. Der Grund: Ich war der einzige Junge dort, ansonsten waren alle Schulschönheiten in jenem Kurs versammelt. Straften sie mich sonst mit Ignoranz, ja, gelegentlich sogar mit Ablenhung, war ich hier ein gefeierter Held, denn meine Großartigkeit beweisen wollend, lief ich tatsächlich auf den Ball zu und nicht weg, wie es bei den Mädels sonst üblich war, baggerte und pritschte, was das Zeug hielt. Tatsächlich hat meine Mannschaft immer gewonnen, und ich bekam das erste und einzige Mal in meinem Leben in Sport 13 Punkte, also "1-" - was das Minus sollte, ist mir bis heute nicht klar.

Eine andere Glanzleistung war ein 1000-Meter-Lauf, den ich in Rekordzeit absolvierte. Zuvor muß ich noch kurz erwähnen, wie ich eigentlich über 1000-Meter-Läufe denke: Ich denke darüber wie über 75, 100, 400 und 5000-Meter-Läufe, nämlich, das sie eine verdammte Schweinerei sind. Marathonläufern würde ich ohne nachzudenken die Bürgerrechte entziehen und wer freiwillig durch den Park rennt, sollte mal wieder ein paar von den prima Tranquilizern schlucken, die der nette Herr Doktor verschrieben hat. Das Dumme war aber, daß ich da einen Freund, einen gewissen "Marcus M.", hatte. Das I-Tüpfelchen auf unserer Beziehung war, daß ich den denkenden Teil abgab, während er sich mehr auf's Körperliche konzentrierte. In der Praxis äußerte sich das so, daß ich immer von fantastischen Frauen träumte und gar Gedichte über meine Angebeteten schrieb, während er den weiblichen Teil der Schule durchvögelte. Irgendwie ergänzten wir uns auf vortreffliche Weise, denn der eine erhielt durch den anderen in unseren Cliquen einen Sonderstatus, der ihn vor Hänseleien und anderen Gehässigkeiten bewahrte. Dadurch wurde ich auf Parties eingeladen und er durfte immer Hausarbeiten abschreiben. (Marcus H. ist wirklich ein ganz eigenes Kapitel). Wie es aber in jeder vernünftigen Beziehung ist, gab es irgendwann Streit und jeder wollte zeigen, daß er auch ohne den anderen kann. Ich suchte mir zu diesem Zweck einen der verhaßten 1000-Meter-Läufe aus. Normalerweise kam ich nach den ersten fünfzig Metern aus der Puste, danach röchelte ich die weiteren Runden so vor mich hin, den Blick stets starr auf die Linien gerichtet, in eine Art Trance verfallen, in der das Hirn von Spontanprogrammierung von RS232-Treibern plötzlich die Blutversorgung sonst weniger beanspruchter äußerlicher Extremitäten regeln mußte und dabei mehr oder weniger völlig versagte. Am Ziel fiel ich meist vornüber hin wie ein nasser Sack und stand nicht mehr so schnell auf. Marcus jedoch, von täglichem Fußballtraining gestärkt, machte nicht viel Aufhebens, lief seine 1000 Meter immer als Schnellster und fragte anschließend nur noch, ob das denn nun schon alles sei.

Dieses Mal war alles anders! Mit unglaublichem Elan blitzte ich Marcus am Start an. Alle standen lässig herum wie immer, nur bei mir spannten sich die Muskeln in Erwartung der kommenden Aufgabe, die da war: Als erster durch's Ziel gehen, koste es, was es wolle. Nach dem Start lief ich wie von der Tarantel gestochen los um mich gleich an die Spitze zu setzen und mit einem Affenzahn die Runden zu drehen. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, ob ich irgendwie überhaupt irgendetwas dachte, und die anderen waren wohl so perplex, daß ich sie bei 800 Metern umrundete und mit weitem Abstand und Jahres-Schulbestzeit durch's Ziel ging. Nein, diesmal fiel ich nicht hin, ich stand eisern dort, sah, wie die anderen endlich in's Ziel keuchten und hatte dieses zufriedene Sieger-Grinsen auf dem Mund. Zwei Sekunden später kotzte ich meinen gesamten Mageninhalt auf den Sportplatz. Das schmählerte meinen Sieg ein wenig, letztlich brachte mir mein furioser Erfolg aber in einer herzergreifenden Versöhnungsszene meinen Marcus zurück.

In der Nachschulzeit honorierte ich Sport damit, daß ich ihn einfach vergaß. Olympiaden interessieren mich höchstens, weil dort satte Schmiergelder fließen und ein scheintoter Vorsitzer des IOC über deren Verteilung entscheidet. Fußball finde ich grauenvoll, zwar war ich mal bei einem Spiel, als Hertha um den Aufstieg in die erste Bundesliga holzte, aber heute weiß ich nichtmal mehr, wer da überhaupt der Gegner war. Ein anderes Hertha-Spiel in der 2. Liga, damals gegen Uerdigen, bleibt mir allerdings unvergessen: In der Mailbox angezettelt, ließ ich mich irgendwie breitschlagen und mit mir einige andere, die ihre Karten im Vorverkauf besorgten. Zwar war verabredet, wo wir im Olympiastadion sitzen wollten, aber das muß verloren gegangen sein, und jeder hatte Karten für einen anderen Block. Mit diesem Sammelsurium konnten wir alle zusammen nur im Hertha-Fanblock verweilen. Dort war es ungeheuer angenehm, denn es flogen Bierdosen (damals offenbar noch erlaubt oder geschickt geschmuggelt) und frenetischer Beifall erschall, sofern ein Hertha-Spieler überhaupt nur in die Nähe des Balls kam. Die Krönung auf der nach unten offenen Skala war jedoch, daß der Schiedsrichter jedesmal im Chor vom Hertha-Fanblock als "Judensau, Judensau" bezeichnet wurde, wann immer er gegen Hertha entschied. Ganz sicher hätte ich anders gepiffen, vor allem bei meiner großen Erfahrung als Schieri beim Schulfußball, am wirklich herzlichen Umgangston dort hätte das wohl nichts geändert. Heute ist es faszinierend, daß Amira ein Riesensportfan ist und keine noch so absurde Sportart im Fernsehen nicht ansehen würde, außer Fußball und Tennis. Das eine findet sie "blöd" und das andere "langweilig". Ganz meine Meinung. Die Vorstellung, meine Amira stünde wie früher in der Halle und würde irgendwelche Verrenkungen machen, um den Handball im Tor zu versenken, finde ich gruselig. Bei uns gibt es nie Streit um die Zeitung: Sie nimmt den Sport, ich die Politik. Grauen erfüllt mich, wenn ich daran denke, mein Sohn könnte eines Tages nicht einen ehrbaren Beruf als Anlagebetrüger, Bankräuber oder Bibliothekar ergreifen, sondern wird Leistungssportler! Dabei habe ich schon festgestellt und ihm erklärt, daß er von mir so viele Entschuldigungen für Sportunterricht bekommen kann, wie er nur will. (Amira, im Gegenzug, sagte ihm sowas für Mathe und Physik zu. Ich glaube, es gibt da noch einen gewissen Klärungsbearf.)

So kann ich also tagein- taugaus alle Sportler von Herzen verachten und lächerlich machen. Das amerikanische High-School-System (es ist kein Problem, wenn einer nicht Lesen und Schreiben kann, sofern er nur beim Football genug Touchdowns schafft) verschafft mir Heiterkeit und bei Sportübertragungen gehe ich sofort aus dem Raum. Die alten Sportlehrer sind längst vergessen und damit ihr Sadismus und die ewige Quälerei. Wenn mal einer im Blickfeld auftaucht, wie vor ein paar Jahren der Fiese aus der Grundschule, dann geht er mir plötzlich nur noch bis kurz über den Bauchnabel. Was habe ich den Typen gefürchtet und vor seiner Autorität gekuscht, jetzt könnte ich ihm auf den Kopf spucken. Sportler sind wirklich eine Lachnummer, und Schulsport überflüssig wie ein Kropf. Ich denke, daß man da viel, sehr viel Geld sparen und den Kindern einen Gefallen...

Vor zwei Wochen sprach ich mit einem Kollegen. Er ist nett. Er sieht gut aus. (Amira meint: "Leckerhäppchen") Er spricht neben Deutsch noch Türkisch, Englisch und "ein paar Brocken" (also fließend) Polnisch. Er ist Bescheiden. Er ist ungeheuer fleißig. Er ist sagenhaft beliebt, eloquent, läuft immer mit einem freundlichen Lächeln durch die Firma. Ich mag ich wahnsinnig gerne, er könnte mein Ebenbild sein. (Na gut: Statt Fremdsprachen spreche ich Basic, C und die Wahrheit offen aus.) Er studiert. Er arbeitet noch bei der Resozialisierung von straffälligen Jugendlichen. Er studiert Chemie, auf Lehramt. Ich kann ihn wirklich gut leiden. Er studiert auch noch Sport - auf Lehramt. Hoppla! Er wird Sportlehrer? Er wird Sportlehrer! S P O R T L E H R E R!

Bei Lichte betrachtet ist er eigentlich ganz schön doof. Tut vorne herum immer ganz freundlich, wer weiß, was er hinterm Rücken erzählt. Trau-schau-wem! Wahrscheinlich bekommt er kein Bein auf den Boden und will sich dann bei den armen Kindern dafür rächen. Oder ich - ich bin noch heute einfach neidisch auf die ungeheurlichen Eroberungen der Sportskanone, meines Schulfreundes Marcus, wirft der eingebaute Hobbypsychologe ein. Oder etwas ganz anderes.

Quatsch. Kann nicht sein. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.

Jedenfalls behalte ich den angehenden Sportlehrer mal ganz genau im Auge.


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 6.3.2000 von Brutus
[Kommentar zu diesem Text in Forum "Literarisches Café" schreiben]
[Forum "Literarisches Café" lesen]
 
[Forum junger Autoren] [Home]