Vorgestern ist fast heute

Ich möchte von einem vielleicht etwas banalen, mich aber immer wieder beschäftigenden Phänomen erzählen, nämlich dem Phänomen namens "Es ist noch gar nicht lange her!"

Für gewöhnlich dünken wir uns ja hochmoderne Kulturmenschen, so sehr von der Wichtigkeit unseres Hier und Jetzt erfüllt, daß in unserem Bewußtsein von "Geschichte" gar keine Rede sein kann. Antike, Mittelalter und Bismarcks Preußen haben in etwa dieselbe Dimension, nämlich die des belächelt Altmodischen, Vorzeitlichen, Muffigen, ja nachgerade Primitiven.

Nun stelle man sich einmal einen Mann vor, der 1989, im Jahr der "friedlichen Revolution" in der DDR, seinen fünfzigsten Geburtstag feierte und genau an diesem Tag ein Kind zeugte. Dieses Kind wird im Jahr 2039 fünfzig sein, also in einer Zeit, da man von unserer Epoche als "vor der Jahrhundertwende" bzw. "vor der Jahrtausendwende" sprechen wird. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird dann bereits 100 Jahre zurückliegen, aus der Sicht des Fünfzigjährigen von 2039 also eine ähnliche Dimension haben wie der deutsch- französische Krieg von 1870/71 für uns ("Pickelhaube und Bajonett").

Zurück zu dem Mann, der 1989 fünfzig wurde. Nehmen wir an, er sei ebenfalls von einem Fünfzigjährigen (geboren 1889, ein Jahr vor Bismarcks Entlassung) gezeugt worden und dieser wieder von einem Fünfzigjährigen (geboren 1839, also nur sieben Jahre nach Goethes Tod und zu Lebzeiten von Karl Marx!). Dessen fünfzigjähriger Vater wäre dann 1789 geboren, im Jahr der Französischen Revolution und nur drei Jahre nach dem Tod des Alten Fritz!

Es ergäbe sich also folgende Tabelle:

1789 Ur- Uropa Französ. Revolution
1839 Uropa 1835 erste Eisenbahn in Dtld.
1889 Opa Seit 1871 dt. Reich
1939 Vater 2. Weltkrieg
1989 Kind Friedl. Revolution DDR

Anhand dieses fiktiven Beispiels erkennt man, wie nahe eigentlich Ereignisse liegen, die man für gewöhnlich gedankenlos "in die Zopfzeit" verlegt und mehr oder weniger belächelt. Man sieht in diesem Zeitraffer aber auch, wie rasant sich die Technik in den letzten 200 Jahren entwickelt hat. 1776 erfand James Watt die Dampfmaschine, also zehn Jahre vor dem Tod des "Alten Fritz" und nur dreizehn Jahre vor der Geburt des "Ur- Uropa" in unserem Beispiel!

Man vergleiche aber auch einmal die Wohn- und Lebensverhältnisse, die gesellschaftliche Wertordnung und die sozialen Errungenschaften der damaligen und der heutigen Zeit! Man kann sich dem Gedanken nicht verschließen, daß die von Watt ausgelöste "Industrielle Revolution" noch längst nicht vorüber ist (man denke nur einmal an die Erfindung des Computers!), daß die Vergangenheit uns aber noch viel näher auf den Fersen ist, als wir "modernen" Menschen das eigentlich wahrhaben wollen.

Auch uns wird man eines Tages als "altmodisch" belächeln, mögen wir uns auch noch so "schrill" aufführen und noch so "modern" dünken. Man erinnere sich einmal daran, wie sensationell einst das Gebaren der "Who" und vergleichbarer Gruppen wirkte. Ihre Aktualität schien einfach nicht mehr zu übertreffen! Und heute muß man lachen, wenn man die "Who" in alten Aufnahmen herumhampeln sieht. Sie wirken geradezu chaplinesk, und das, was man eigentlich einmal faszinierend fand, kann man ebensowenig erklären wie ein Zeitzeuge Hitlers Ausstrahlung (der ja auf den heutigen Betrachter wie eine Karikatur seiner selbst wirkt, so daß man sich fragt, wer diesen Mann eigentlich jemals ernst genommen hat).

Zugleich muß man sich aber auch fragen: Hält unser Bewußtsein mit der Entwicklung der Technik und ihren Folgen, insbesondere der Bevölkerungsexplosion, Schritt?

Unsere kleine "zweihundertjährige Tabelle" sollte uns jedoch auch auf einen anderen Gedanken bringen, nämlich daß sich die Resignation ("Ach, was soll's, ich kann ja eh nix ändern!") zu Unrecht so großer allgemeiner Beliebtheit erfreut. Die Geschichte scheint sich in ihrem Verlauf an die "Chaos- Theorie" oder an den Grundsatz "Steter Tropfen höhlt den Stein" zu halten, so daß auch der kleinste Versuch, sich für oder gegen etwas zu engagieren, nicht ohne Folgen bleiben muß. Egal in welche Zeit wir blicken, wir werden immer feststellen, daß Veränderungen sich nicht aufhalten lassen. 1789 fand die Französische Revolution statt und veränderte das Gesicht der ganzen Welt. Ausgelöst wurde sie von einem so schlichten und gänzlich unpolitischen Antrieb wie dem Hunger von Menschen, die im Vergleich zu uns tausendmal mehr Grund gehabt hätten, anzunehmen, "nichts ändern" zu können. Auch das scheinbar "unabänderliche" Gesicht des "Manchester- Kapitalismus" und das der preußischen Monarchie wurde durch die Beharrlichkeit und den Mut gerade der "einfachen", "kleinen" Leute geändert.

Also, vergeßt Eure modischen Depressionen, Euer Rebirthing, Rolfing und den Psychotank! Nicht jammern, nicht verzagen - viele kleine Schritte ergeben einen großen! Oder, um mit Erich Kästner zu sprechen:

"Es gibt nichts Gutes - außer, man tut es!"


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 19.3.1995 von Holger
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